In der Märchensammlung der Gebrüder Grimm findet sich ein Märchen mit einer seltsamen Überschrift: "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen!" - Und auch in Richard Wagners Oper „Siegfried“ geht es um das selbe Thema: Siegfried wird zum Drachen losgeschickt, um das Fürchten zu lernen. – Und interessanterweise lernt Siegfried nicht vom Drachen das Fürchten, sondern erst später, - von seiner Frau (!) – Das Leben ist oft merkwürdig! - In dem Moment, wo Siegfried zum ersten Mal in seinem Leben einer Frau begegnet und sich verliebt, da bekommt er Angst und lernt das Fürchten.
Merkwürdig ist das aber auch, weil jeder sich sofort fragen wird: Ist das denn notwendig? Muss ich als Mensch das Fürchten erst noch lernen? So dumm kann doch eigentlich niemand sein, dass er sich nicht einmal zu fürchten weiß? Wenn überhaupt, dann muss ich lernen, wie ich die Furcht überwinde, wie ich von Ängsten frei werde - aber nichts anderes, nicht das Fürchten selbst.
Und doch ist die Botschaft dieses Märchens und der Wagner-Oper gar nicht so falsch. Sie passt haargenau zu dem, was ein Christ zu tun hat: er soll, er muss das rechte Fürchten lernen. So sagt es uns Jesus heute: Wir sollen als Christen Menschen sein, die wissen, wovor sie sich zu fürchten haben und wovor nicht.
Dreimal ruft Jesus heute seine Jünger auf, sich nicht zu fürchten:
- Fürchtet euch nicht vor den Menschen!
- Fürchtet euch nicht, ihr seid mehr wert als alle Spatzen zusammen!
- Fürchtet euch nicht vor denen, die nur den Leib töten können.
Jesus redet seinen Jüngern aber nicht jede Furcht aus. Eindeutig rät er ihnen nämlich:
Fürchtet euch vor dem, der Leib und Seele ins Verderben stürzen kann!
Wir sollen das rechte Fürchten lernen.
Derjenige aber, der Leib und Seele ins Verderben stürzen kann, ist aber nicht etwa der Satan, sondern Jesus meint an dieser Stelle damit Gott.
Und damit haben wir ein neues Problem. Ist Gott jemand, den wir fürchten müssen?
Da hilft es auch nicht, wenn wir wissen, dass Jesus nicht der Einzige ist, der von der Gottesfurcht spricht. Zum Beispiel ist auch in den Psalmen, die ja täglich im Kloster gebetet, oft davon die Rede:
"Kommt, ihr Söhne, hört mich an. Die Furcht des Herrn will ich euch lehren!" (Ps 34,12).
"Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit." (Ps 111,10)
"Dient dem Herrn in Furcht und küsst seine Füße mit Zittern!" (Ps 2,11).
Und trotzdem: Ist Gott nicht eher der, dem wir vertrauen sollen?
Meint er es nicht gut mit uns? Ist "Gottesfurcht" also angemessen?
Ich bin mir sicher: Jesus möchte den Menschen nicht ein angstmachendes Gottesbild vermitteln. Sein Rat, Gott zu fürchten, soll den Menschen vielmehr von falschen Ängsten befreien. Denn, wer Gott fürchtet, der braucht sich vor anderen Mächten nicht mehr zu fürchten: Die richtig verstandene Gottesfurcht führt zur Freiheit.
Ein Beispiel: Da höre ich etwa von einer Frau (1), die psychisch krank ist. Im Gespräch mit wird deutlich: sie lässt sich viel zu schnell auf die Bitten und Wünsche ihrer Umgebung ein. Es fällt ihr außerordentlich schwer 'Nein' zu sagen und nimmt alles an, was ihr angetragen wird. Und im Gespräch wird schnell deutlich, warum das so ist: Die Frau möchte verhindern, dass jemand mit ihr unzufrieden ist - oder an ihr Kritik übt: Sie hat das Gefühl, nur aufgrund der Bestätigung durch die anderen Menschen ein Mensch zu sein. So lebt sie in dauernder Abhängigkeit von der Anerkennung durch die anderen. Das führt zu Dauerstress und macht sie krank.
Diese Frau kann gesund werden, wenn sie nicht mehr das Urteil derer fürchtet, die nur den Leib töten können. Das Urteil von anderen Menschen also. - Sie kann gesund werden, wenn sie sich klar macht: das einzige, was wirklich zählt, ist wie Gott mich sieht. Wenn sie ihn fürchtet, kann sie alle Menschenfurcht überwinden. Und Gott, darauf können wir vertrauen, überfordert den Menschen nicht. Er ist der sorgende Gott, der uns ein glückliches und gelungenes Leben wünscht.
Ihn fürchten, d.h. ihn ernst nehmen, ist aber die Voraussetzung dafür. So will Gottesfurcht also nicht versklaven, sondern befreien. Gott ist der Weg, vom dem wir besser nicht abweichen, damit unser Leben gelingt: Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Zu meinen Lieblingsheiligen gehört der heilige Thomas Morus. Er hat sich geweigert, den sogenannten Suprematseid zu leisten, mit dem sich der englische König Heinrich VIII. von der römischen Kirche trennte und sich zum Oberhaupt der anglikanischen Kirche machen ließ. Thomas Morus, einst sein Vertrauter und Kanzler, ist deshalb ins Gefängnis geworfen und hingerichtet worden. Seine letzten Worte waren: „Ich sterbe als treuer Diener des Königs, zuallererst aber als Diener Gottes.“ - Seine Gottesfurcht hat ihn die Menschenfurcht überwinden lassen, so dass er sogar den Tod nicht fürchtete.
Heinrich VIII. ist zwar längst Geschichte, aber es gibt im Leben immer noch viele kleine Könige, die wollen, dass wir ihnen dienen. - Jesus lädt uns ein, Gott als alleinigen König und Bestimmer unseres Lebens anzusehen, damit diese kleinen Könige aufhören, über uns zu herrschen. - Wahre Gottesfurcht führt zur Freiheit! - Amen.
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Anmerkung:
(1) Nur aus Diskretionsgründen habe ich im Beispiel „eine Frau“ anstatt „ein Mönch“ gewählt.
Predigt für den 12. So. im Jahreskreis (A) am 22. VI. 2008 (Hl. Messe um 11.00 Uhr, St. Ottilien)