Die Inszenierung von Richard Jones kam ursprünglich an der Welsh National Opera im walisischen Cardiff auf die Bühne. Nach Chicago, San Francisco und New York ist sie jetzt an der Bayerischen Staatsoper in München zu sehen.
Hänsel und Gretel: Eine Geschichte, die irgendwie nie aus der Mode kommt. Zum diesjährigen Grimm-Jahr wird das Märchen in der Opernbearbeitung von Engelbert Humperdinck an der Bayerischen Staatsoper neu inszeniert.
Grausamer gehts nicht. Vater und Mutter können ihre zwei Kinder nicht mehr ernähren und beschließen, die beiden im tiefen Wald auszusetzen. "Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los", sagt die Frau. Der Mann will eine solche Tat nicht übers Herz bringen. "O du Narr", entgegnet die Frau, "dann müssen wir alle viere Hungers sterben, du kannst nur die Bretter für die Särge hobeln." So erzählen die Brüder Grimm die Geschichte von "Hänsel und Gretel" in der fünften Auflage ihrer Kinder- und Hausmärchen von 1843. Kinderängste ohne Ende. Der reine Horror.
Humperdinck (1854-1921) war ein glühender Verehrer Richard Wagners, diente dem Meister als Assistent in Bayreuth, half ihm beim "Parsifal" - kein Wunder, dass er die Liedspielfassung von "Hänsel und Gretel" humorvoll als "ein Kinderstubenweihfestspiel" bezeichnete.
Es tut dann richtig gut, wenn ein heutiger Regisseur wie Richard Jones zwar alte Märchenbilder entstaubt, aber auch keine Freudsche Psychoanalyse betreibt: Er zeigt in seiner jetzt in München zu sehenden Inszenierung von "Hänsel und Gretel" voller Spaß, wie Kinder lustvoll die Regeln verletzen und sich den Bauch mit Süßigkeiten vollstopfen. Herrlich politisch unkorrekt auch, wie die menschenfressende Hexe nach einer grandiosen Küchenschlacht im Ofen landet - und zum Happy End gut gebraten, auf dem Tablett, den Kindern und Eltern vorgesetzt wird, die schon das Besteck wetzen. Auch irgendwie grausam. Aber zum Lachen.
Nein, märchenhaft-lieblich ist diese Produktion nicht. Denn wenn’s ums Essen geht, gibt’s kein Tabu. Da leert das liebe Hänselchen die Taschen der Baum-Männer im Wald, wenn Beeren gesammelt werden sollen. Ebenso wird das Hexenhäuschen – ein riesiger Mund, auf dessen Zunge ein Muffin ruht – von den Kindern nicht nur angeknuspert: hier werden gierig riesige Stücke herausgerissen. Bezwingende Bilder findet Jones aber auch für die Ängste der Kinder von heute. So ist etwa das Sandmännchen kein liebes Geschöpf aus dem Bilderbuch, sondern eine kleine knochige Gestalt wie aus dem Horrorfilm.
Überhaupt sieht Jones vieles aus Kinderaugen: etwa die Backszene bei der Hexe, einer tuntigen Über-Oma mit Riesenbusen. Wie beim besten Kindergeburtstag dürfen sich die Kleinen hier hemmungslos mit Süßkram vollstopfen – und gebacken wird, dass Mehl, Mandeln und Zuckerwerk nur so durch die Luft fliegen, wobei angenehmerweise nicht aufgeräumt werden muss. Wie sehr das allen Kindern Spaß macht, bestätigen allein schon die vielen kleinen Besucher im Nationaltheater, die am Schluss der gesamten Produktion wie auch dem Regieteam jubelnden Beifall spenden.
Nun ist die Märchenoper dennoch auch ein Stück musikalische Romantik, hörbar komponiert in Wagner-Nachfolge. Dirigent Tomás Hanus beginnt verhalten und lässt dann in stets durchsichtigem Klangbild, das viel Rücksicht nimmt auf die jungen Stimmen, Humperdincks Musik mit dem Bayerischen Staatsorchester aufblühen, ohne das Ganze mit zu viel Sahne zu dekorieren.
Schlicht wunderbar ist die Besetzung der beiden Hauptpartien durch die blutjungen Sängerinnen Hanna-Elisabeth Müller und Tara Erraught, beide im Opernstudio der Bayerischen Staatsoper groß geworden, die für die Partien von Hänsel und Gretel wohltuend vibratolos, frisch und klar singen. Alejandro Marco-Buhrmester gibt einen launigen, stimmkräftigen Besenbinder Peter, Janina Baechle mit dramatischem Mezzo eine leider sehr textunverständliche Mutter Gertrud und Mozart-Tenor Rainer Trost liefert als Knusperhexe ein schauspielerisches Kabinettstückchen, hinter dem die stimmliche Leistung leider zurücksteht. Sonderlob für Golda Schultz als Taumännchen: Eine sexy Putz-Elfe, die nach dem nächtlichen 14-Köche-Gelage am Morgen danach abzuwaschen hat, gut gelaunt im Spülschaum planscht und mit glockenreiner Stimme ihr Wecklied singt. Insgesamt eine rundum gelungene Produktion, die Klein wie Groß einen Heidenspaß (nicht ganz ohne Abgründe) bereitet.
Besuchte Vorstellung: Generalprobe am 22. März 2013