Freitag, 19. April 2024

Wagner für Fortgeschrittene: Tristan und Isolde (Eugen Jochum, Bayreuth 1953)

Diese Aufnahme von Tristan und Isolde ist besonders wertvoll, da es sich um die einzige verfügbare Aufnahme mit der Isolde der großen Astrid Varnay handelt. Die Aufführung wird von einem der kompetentesten, wenn nicht sogar leidenschaftlichsten Dirigenten des deutschen Repertoires geleitet: Eugen Jochum. Jochum ist in seinem Dirigierstil keineswegs trocken, und dieser Tristan strahlt mehr Wärme und Engagement aus als viele andere, aber wir sprechen hier nicht von einer Aufführung auf dem gleichen Niveau wie die berühmte Aufnahme von Windgassen/Nilsson/Böhm, die viele als die beste verfügbare Version dieser Oper betrachten. Die Schlüsselwörter dieser Bayreuther Aufnahme von 1953 sind von Anfang an Konzentration, Genauigkeit und Engagement, wodurch das Drama sehr überzeugend in Bewegung bleibt. 

Astrid Varnays Isolde ist intelligent und stolz, und wo es darauf ankommt, leidenschaftlich. Sie spielt die Rolle mit ebenso viel Entschlossenheit und Klarheit wie ihre Brünnhilde und verleiht dem Text Schattierungen, die man selten findet. Ihr „Wie lachend sie mir Lieder singen“ zum Beispiel ist nicht so übertrieben wie die Darstellungen vieler anderer Sängerinnen, aber am Ende hat man das Gefühl, dass es sich hier um eine Frau von selbstbewusster Majestät handelt. Varnays Stimme hatte ein enormes Volumen und ein schweres, dunkles Timbre; sie zeigt auch große stimmliche Fähigkeiten mit unglaublicher Musikalität. Ihre Beteiligung an der gesamten Nachtszene, die mit dem großen Liebesduett im zweiten Akt endet, ist sowohl musikalisch als auch dramaturgisch außerordentlich. Ihr „Liebestod“ muss als eines der schönsten jemals aufgenommenen Werke angesehen werden. Es steht auf Augenhöhe mit jeder ihrer großartigen Aufnahmen, und obwohl sie in der Rolle der Brünnhilde absolut ideal war – eine Leistung, die in keiner anderen großartigen Rolle zu erreichen wäre –, verfügt Varnays Isolde über viel mehr Können und echtes Gefühl als fast jeder andere Sängerin in dieser Rolle. Der Liebestod ist dafür ein ebenso gutes Beispiel wie jeder andere Teil der vorliegenden Aufnahme. Wenn es zunächst zum Unsubtilen tendiert, hebt es den Zuhörer schließlich langsam und überraschend auf eine Höhe, die man nur von den größten Wagner-Interpreten erwarten kann. 

Der beliebte und wenig bekannte Ramón Vinay singt den Tristan, und er ist eine gute Wahl für die Rolle. Vinays Tenor zeichnet sich durch ein baritonales, robustes und durchdringendes Timbre aus. Seine Herangehensweise an die Rolle ist vollblütig und kriegerisch, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Ob er mit der glühenden Entschlossenheit und Interpretationstiefe von Astrid Varnay mithalten kann, ist schwer zu sagen. Er macht in vielerlei Hinsicht viel aus dem Text und überzeugt uns in den meisten Fällen von seinem Charakter. Seine letzten Worte sind ein rührender, aber gut kontrollierter Ausdruck gestörter Liebe. 

Gustav Neidlinger singt den Kurwenal. Sein Ansatz ist geradlinig und an den richtigen Stellen berührend. Er bringt einen hervorragenden prägnanten Ton mit, der in aufgezeichneten Darstellungen dieser wichtigen Figur so oft fehlt. Die Rolle der Brangäne wird gekonnt vom großen Bayreuther Mezzosopran Ira Malaniuk gesungen, König Marke von Ludwig Weber. Obwohl diese Aufnahme in Mono ist, ist die Klangqualität extrem gut und ausgewogen, vor allem für eine Live-Aufnahme. Dies ist eine Gelegenheit, um fantastische Künstler in der Blütezeit ihrer Karriere zu hören.

Montag, 15. April 2024

Von der Faszination historischer Aufnahmen (4) - Tosca 1938 mit Maria Caniglia und Benjamino Gigli

Giacomo Puccini

Tosca 

Maria Caniglia, Beniamino Gigli u.a., Chor und Orchester der Königlichen Oper Rom, Oliviero de Fabritiis 

Naxos historical 8.110096-97 
(1938) 2 CDs 

Dies ist mit Abstand die beste "Tosca", die ich kenne. Der Dirigent Oliviero de Fabritiis führt uns in ein Kolorit von unsagbarer Schönheit: Man riecht noch einmal ins 19. Jahrhundert, in die Belle Époque mit ihrer Grandeur und Endzeit-Fragilität. Den einzelnen Tönen verleiht er klare und kühne Farben. Die schnell wechselnden Stimmungsbilder sind wundervolle Miniaturen, unendlich interessante Teile eines Ganzen. 

Zudem sind Fabritiis Tempi denkbar richtig - eine Sache, die sich vielleicht am schwersten lernen lässt und die diese "Tosca" am meisten von allen anderen unterscheidet. Man hat den Eindruck von Gedrängtheit und Fülle - auch aufgrund der nicht abbrechenden Spannung, der großen Bögen, so dass sich die ganze entrückte Poesie Puccinis entfaltet und der Realismus der Handlung nur noch als artistische Folie erscheint. 

Die Fähigkeit zu großer dynamischer wie klanglicher Differenzierung zeichnet die beiden Hauptdarsteller aus. Benjamino Gigli und Maria Caniglia haben in den dreißiger und vierziger Jahren eine ganze Reihe von Opern zusammen aufgenommen: Caniglias Tosca ist herrlich hysterisch mit einer eher dunkel-schweren Stimme. Giglis Mario fasziniert durch die anmutige Leidenschaftlichkeit seines hellen und extrem beweglichen Tenors. Diese Gegensätzlichkeit produziert einen fast surrealistischen Effekt. Die Verbindung von so hochentwickelten Individualstilen ist heute kaum noch denkbar: Man zieht sich aus Ängstlichkeit auf einen korrekten Minimalismus zurück oder macht die Geschmacklosigkeit von vornherein zur Maxime. 

Hörenswert ist weiterhin das komödiantische Vermögen Giglis, Guilio Tomeis (Mesner) und Armando Borgiolis (Scarpia). Selbst die Hysterie Caniglias verdankt sich diesem alten Schauspielerbewusstsein der absoluten Künstlichkeit der Darstellung. Im Anhang befinden sich Auszüge einer weiteren Tosca-Aufnahme von 1931 in französischer Sprache. Der Klang dieser Neu-Restaurationen ist transparent, ausgewogen und rauscharm.

Montag, 29. Januar 2024

Von der Faszination historischer Aufnahmen (3) - Lohengrin 1943 an der MET


Richard Wagner
Lohengrin
Astrid VarnayKerstin ThorborgLauritz MelchiorAlexander SvedNorman CordonMetropolitan Opera OrchestraErich Leinsdorf

Naxos 8.110235-37
(200 Min., 1/1943) 3 CDs

Es rauscht. Ein bisschen nur. Gerade soviel, um uns in die alte Met zu versetzen, in diesen gewaltigen, dunkelgoldenen Prunkraum aus besseren Opernzeiten, der 1966 den Abrissbirnen zum Opfer fiel. Wir schreiben das Jahr 1943, auf der anderen Seite des Atlantiks tobt der Krieg, und in New York spielt man "Lohengrin". Astrid Varnay ist gerade 24 Jahre alt und singt die Elsa mit einer so dramatischen, reichen, vollen Stimme, dass die Figur wie eine Schwester Brünnhildes klingt. Die Titelpartie in der "Walküre" hatte sie bereits mit 22 an der Met verkörpert. Kerstin Thorborg fürchtet die Varnay'sche Klangwucht nicht und setzt ihr als Ortrud abgründige Dämonie entgegen. Nach "Entweihte Götter!" gibt es kein Halten mehr, und das Publikum bricht in wilde Ovationen, mitten in die Musik hinein, so geht das an der Met, auch heute noch. Lauritz Melchior ist der Schwanenritter vom Dienst, in diesen Jahren gehörte er an der Met gleichsam zur Grundausstattung von Wagner-Aufführungen. Einen besseren Heldentenor gibt es zu dieser Zeit wirklich nicht. Alexander Sved singt den Telramund, anstatt ihn wie viele andere Baritone verzweifelt zu brüllen. Erich Leinsdorf dirigiert in bester Kapellmeistertradition. Und hier und da mit einem Silberschimmer. Met-Alltag 1943. Schöne Zeiten für die Oper.

Montag, 8. Januar 2024

Musik vom Himmel: Bruckners Motetten


Anton Bruckner (1824-1896) gilt als einer der größten Symphoniker des 19. Jahrhunderts. Aber auch Chormusik war ein integraler Bestandteil des Schaffens des Komponisten. Dieses Album enthält eine Auswahl kleinerer Chorwerke, die zwischen 1848 und 1892 geschrieben wurden. Viele dieser Werke gerieten lange in Vergessenheit. Doch nach einer langen Zeit am Rande der Chorwelt sind Bruckners Motetten nun endlich in ein breiteres Bewusstsein zurückgekehrt. Der Lettische Radiochor (LRC) zählt zu den besten professionellen Kammerchören in Europa und sein ausgeprägter Geschmack für musikalisches Material, die Feinheit des Ausdrucks und sein unglaublich großer Stimmumfang haben ihn zu einer bekannten Marke auf der Weltkarte gemacht. Das Repertoire des LRC reicht von der Musik der Renaissance bis zu den anspruchsvollsten Partituren moderner Komponisten; Man könnte es als Klanglabor bezeichnen: Die Sänger erforschen ihre Fähigkeiten, indem sie sich den Geheimnissen des traditionellen Gesangs sowie der Kunst des Viertelton- und Obertongesangs und anderen Techniken der Klangerzeugung widmen. Der Chor hat ein neues Verständnis der Möglichkeiten einer menschlichen Stimme etabliert; Man könnte auch sagen, dass der Chor der Schöpfer eines neuen Chorparadigmas ist: Jeder Sänger ist ein eigenständiges Individuum mit seiner eigenen Stimmhandschrift und seinen eigenen Rollen bei Aufführungen.