Freitag, 21. März 2025

Die Zeit in der Tasche

Die Genese der U(h)rbedeutung oder: Warum hat mein bester Studienfreund Pater Rudolf  Hein O. Praem. (heute ist er Professor für Moraltheologie an der PTH in Münster) die Zeit in der Tasche? 

„Wie spät ist es?“ – das kleine grinsende Jungengesicht schiebt sich in der Pausenhalle des Friedrich-Spee-Gymnasiums unbarmherzig in mein Blickfeld. In meditativer Seelenruhe an meinem erdnußbutterbeschmierten Pausenbrötchen mümmelnd versuche ich ihn so gut es geht zu ignorieren. Doch da ist es wieder: dieses schrill-triumphalische Rufen nach der Zeit, genauer gesagt, nach der Uhr, nach meiner Uhr. Der Junge, irgend ein Zwerg aus der Unterstufe, gibt nicht auf, nennt mich in seinem frotzelnden Kinderkauderwelsch „Big Ben“ und will partout meine Uhr sehen, eine Molnija, 19 Steine, Baujahr 1977, mit cremefarbenem Papierblatt und gebläuten Stahlzeigern. Eigentlich nichts Besonderes für einen gestandenen Uhrensammler, wohl aber für einen fast-postpubertären Oberstufengymnasiasten, der sich konsequent allen modischen Trends verweigert und seit seinem 16. Lebensjahr die Zeit an der Kette trägt. Warum ausgerechnet die Unterstufe unserer glorreichen niederrheinischen Lehranstalt von meinen absonderlichen Liebeleien zwecks andauernder infantil-spottbeladener Ausschlachtung Wind bekommen hatte, weiß der liebe Himmel oder meine lieben Mitschüler, wenn sie mal gerade nicht mit dem Abschreiben meiner Hausaufgaben beschäftigt waren. Ja, ich war ein wenig stolz auf dieses kleine russische Stahlherz, welches fröhlich in meiner Hosentasche tickte und mich an meinen Onkel, den mechanischen Tausendsassa aus der Vojvodina erinnerte, von dem sie stammte. Durch die Initialzündung, die von diesem Instrument ausging, wurde in mir das Feuer einer großen Leidenschaft entfacht, das merkwürdigerweise erst während des asketischen Alumnendaseins im Umfeld des Münsteraner Theologenkonviktes „Borromaeum“ voll zur Entfaltung kam. Abgeschirmt und ekklesial wohlbehütet von den üblen Verlockungen der Außenwelt mußten erst Jahre vergehen, bis ich auf einem seltenen abendlichen Streifzug durch die Münsteraner Innenstadt (wohlgemerkt nach Ladenschluß) in einer Ladenpassage gleich hinter der Goldschmiede „Teufel“ einen Antikuhrenladen entdeckte, dessen Auslage spärlich, wohl aber erlesen zu sein schien. Bei meiner beiläufigen Betrachtung der Exponate stach mir besonders eine Taschenuhr ins Auge, deren Marke ich von den Annoncen einschlägiger Arztpraxenzeitschriften her kannte: IWC, International Watch Company. In Bruchteilen von Sekunden blitzten mir die Preisangaben der Werbeannoncen durch die rechnerisch tätige Hirnhälfte: mindestens 8.000 DM musste man heute für eine echte IWC hinlegen (so dachte ich damals), in Stahl, versteht sich. Und hier räkelte sich eine noch echtere IWC-GOLDtaschenuhr im Fenster für einen Bruchteil dieses Preises. Nun begann etwas von mir Besitz zu ergreifen, was ich als Vorläufer des Geizist-geil-Phänomens skizzieren möchte: alle Restbestände konsumhemmender Rationalität zogen sich in die Schmollecke der Nichtbeachtung zurück, während der Besitzgedanke sich gnadenlos durch meine restlichen Gehirnwindungen fraß. Was blieb mir als armem Opfer dieser Konsumfalle also anderes übrig, als die Kapitulation durch Kauf? 

Nachdem ich wenige Tage später dieses tickende (und übrigens leicht verbeulte) Wunderwerk Schaffhausener Fabrikationskunst erworben hatte, rührte mich erwartungs- und irgendwie auch ordnungsgemäß die Reue: Hatte ich am Ende einfach Edelschrott erworben? Würde man mich auslachen, mich mit Vorwürfen eindecken, wenn dieses aus der Jahrhundertwende stammende Zeitmeßinstrument ans Tageslicht der kritischen Öffentlichkeit kam? Mein nächster Weg führte mich in die (mittlerweile geschlossene) Regensbergsche Buchhandlung, wo ich alles zu greifen und zu begreifen versuchte, was sich über Taschenuhren aus jener Zeit finden ließ (ohne zu kaufen, versteht sich, denn das hatte ich erst einmal hinter mir). Dieses Informationsinteresse ist bis heute nicht von mir gewichen, nur hat sich mein Schwerpunkt sehr schnell von schweizer hin zu amerikanischen und englischen Taschenuhren verlagert, doch das ist eine andere Geschichte…

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