Donnerstag, 16. März 2000

Warum ich Christ bin

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Öffentlicher Vortrag von Prof. August Everding
im Kloster Andechs am 29. Mai 1988

Ich verdanke und danke die Tatsache, Christ, katholischer Christ zu sein, meinen Eltern. Das ist dramaturgisch kein guter Beginn für einen Vortrag. Die Wörter »verdanken« und »danken« sind schon so positiv, daß dem Ganzen das Brio fehlen könnte. Ich verachte also meine Eltern nicht, daß sie bekennende Christen waren, ich verdamme sie nicht, weil sie mich haben taufen lassen - ohne mich zu fragen. Ich bin ihnen nicht gram, daß sie mich christlich erzogen haben. Nahm ich doch auch die anderen Annehmlichkeiten (ist Christsein eine Annehmlichkeit?) ohne zu fragen in Kauf: ihr Haus, ihre Kultur, ihr Geld, ihre Geschichte, ihre Gene. Ich habe mich nicht entschließen müssen, Christ zu wer-den - die Gnade einer »richtigen« Geburt machte mich zum Christen, ohne Verdienst. Ich konnte mich ja auch nicht entschließen, meines Vaters Sohn zu werden. Ich wurde es, ohne Zutun und Verdienst. Würde ich die Sohnschaft verlieren, wenn ich meinen Vater erschlüge, um nicht mehr sein Sohn zu sein? Ich bliebe der Sohn vom toten Vater. Und ich bin getauft! Da hilft keine Sünde, kein Kirchenaustritt. Da kann ich Kreuze zerbrechen, Hostien schänden, Christus umbringen - ich bleibe getauft. Aber ich habe mich doch nicht selbst getauft. Habe ich mich selbst gezeugt? Habe ich meine Erbmasse bestimmt?

Bei so vielen wichtigen Dingen meines Lebens habe ich kein Wörtchen mitgeredet. Nur bei der Religion - auch nicht gerade unwichtig für das Leben - meinen viele, müsse man erst später selbst entscheiden. Geld erben darf ich, aber keine Überzeugung. Die soll ich erst selbst erzeugen. Meine Erzeuger kann ich mir nicht selbst wählen, aber meine Überzeugung soll ich erkämpfen. Ich bekenne: Ich bin im Christentum zu Hause; vielleicht weil die Wohnung so kulturell vorgeheizt ist, weil auch meine Eltern dort gewohnt haben, vielleicht auch, weil ich die Kälte anderer Behausungen schwer ertrage. Meine Schwester meinte immer, sie sei ein Findel- oder Adoptivkind. Ich war immer Everdings Sohn und Christ. Ich stellte letzteres zuwenig unter Beweis, aber an der Tatsache zweifelte ich nie. Ich zweifelte darum auch nicht an Gott, wenn er Ungerechtigkeiten zuließ. Ich wußte immer, daß er den Menschen in die Freiheit und damit auch in die Sünde entlassen hat. Viele der gängigen Vorwürfe gegen die Kirche quälen mich nicht. Mich regt nicht auf, ob ein Barockpapst Kinder hatte, ob jemand Ablässe verkaufte. Viele Leute halten es mit der Kirche wie mit dem Staat. Sie schieben alles Versagen auf ihn und haben vergessen, daß sie der Staat sind. Wegen der Transsubstantiationslehre würde ich an keinem Kreuzzug teilnehmen.


Aufregend - weil so fern aller sozialen Betriebsamkeit - ist die Forderung, daß Liturgie »zum Lob und Ruhme seines Namens« geschehe. Und innerhalb der Liturgie finden nicht nur Feiern statt, sondern wirksame Veränderungen; Worte bewirken Veränderungen. »Ich spreche dich los von deinen Sünden« ist kein Trost, keine Beruhigung, sondern Erlösung. Die Wandlungsworte sind essentiell und nicht symbolisch, und die Taufe verändert Natur oder besser - gibt der Natur die Möglichkeit, sich zu verändern. Die Taufe brennt uns ein Siegel ein, das wir nicht mehr verlieren, auch wenn wir uns dagegen wehren, daran herumbürsten oder uns die Tätowierung wegzuätzen versuchen. Worte wirken nicht nur, sie bewirken. Wir Schauspieler spielen und wirken mit unseren Wörtern und Worten. Wir ecken an, sind anstößig, machen nachdenklich oder fröhlich. Liturgisches Wort ändert. Lachen Sie bitte nicht. Meine Frau würde ihr Enkelkind, wenn die Eltern es nicht taufen lassen würden, heimlich selbst taufen, dabei wissend, daß die Taufe vielleicht nicht gültig ist, weil der erklärte Wille der Paten oder Eltern fehlt; sie würde es dennoch tun, weil sie überzeugt ist, daß dem Kind etwas fehlte, was ihm immer fehlen würde. Dahinter steht die tiefe Überzeugung, daß das nur natürlich geborene Kind den Odem der Übernatur braucht. Taufe gibt die Chance, aus dem natürlichen Jammertal wieder ein Paradies zu machen. Wenn jeder Nebenmann zum Nachbarn würde, wenn jeder Christus wäre, der uns begegnet, und wir ihm so begegneten, würden wir alle arm und unbeschreiblich reich werden.

Das war jetzt ein bekenntnishaft vorgetragenes Credo, ein bißchen pathetisch, vielleicht ein bißchen Poesie über den Abgründen. Die Themenstellung erscheint mir aber so indiskret, daß man sie ignorieren oder möglichst ehrlich beantworten muß. Gefragt wird nach einem Bekenntnis, und ein Bekenntnis ist nicht diskret.

Die Botschaft Christi ist verbindlich, sie ist human und verpflichtet den einzelnen für sein ganzes Leben. Dieser Anspruch ist so total, daß die Antwort kein Jein sein kann. Man ist zu einem Ja oder Nein gefordert. Walter Jens hat die Frage »Warum ich Christ bin« vor allem damit begründet, daß das Gebot der Feindesliebe »jede andere religiöse oder philosophische Lebensanweisung überschreite«. Richtig, aber für mich ist die Feindesliebe zunächst eine unnatürliche Zumutung. Natürlicherweise verachte ich meine Feinde. Der christliche Aufruf zur Unnatur läßt mich aufhorchen.

»Die Ersten werden die Letzten sein« - das geht ganz gegen meinen persönlichen Strich, und daß die Letzten hier die Ersten im Himmel sein sollen, empört mein Gerechtigkeits- und Qualitätsempfinden. Aber gerade dieser Aufruhr läßt mich aufmerken. Das Christentum sieht alles aus der Perspektive der Opfer, ich sehe meistens alles aus der Perspektive der Sieger. Ich weiß aber gleichzeitig, daß diese, meine »natürliche« Einstellung zuwenig abdeckt - ja, vieles zudeckt. Mein Gottesbild war geprägt vom Deus triumphans, der seine Feinde in die Ablagen schickt. Christus aber ist ein Besiegter, Gescheiterter. Wie gern wendet man sich an ihn, wenn man selbst besiegt und gescheitert ist. In den Zeiten der »Siege« - welch unchristliche Formulierung - aber denkt man an den Allmächtigen, Allherrschenden. Das Christentum aber verkündet uns auch die Lehre des trauernden und bekümmerten Gottes. Führte ich mein natürliches Leben, wäre es nicht vom Geist der Bergpredigt bestimmt. Aber gerade weil ich weiß, wie kaputt meine Natur ist, kann die Bergpredigt mich aus meiner Natur herausfuhren. Das nicht domestizierte Scheusal in mir will Krieg und Sieg. Als Christ darf ich keinen Krieg zulassen. Ich bin Christ, weil es mir hilft, meine Natur zu überwinden, zu kultivieren.

Dieses Christsein war zunächst ein Geschenk, das ich gar nicht ausschlagen konnte, dann habe ich es bewußt angenommen, und seitdem schlage ich mich damit herum - in Gedanken, Worten und Werken. Das Gefühl des unverdient reich Beschenkten muß sich läutern zum bewußt Annehmenden.

Lassen Sie mich bekennen: Ich kann den hustenden, keuchenden, schnaufenden, stinkenden Nachbarn nicht ertragen. Ich hasse Massen und die Menge, ich ertrage kaum einen vollen Aufzug - aber jeder in dieser Menge soll mein Nächster, könnte Christus sein. Diese Forderung übersteigt so sehr meinen Geschmack, mein Empfinden, mein Denken, daß sie mich festnagelt - meinen Egoismus offenbart, meinen Rückzug auf mich selbst entlarvt. Meine Natur widerspricht allen christlichen Forderungen. Ich möchte auf der Straße an den elendigen Blutenden vorbeihasten, ich möchte den grinsenden Zigeunerkindern nichts geben, auf daß ihre Mütter mich nicht noch mehr belästigen, ich möchte herrschen und nicht dienen, ich möchte siegen und nicht verlieren, ich möchte glänzen und nicht grau werden. Und dennoch sehe ich ein, daß diese verfluchte Forderung mich weiterführt als meine kommode Selbstbefriedigung. Die christliche Lehre widerspricht der jetzigen Natur der Menschen. Wie war die ursprüngliche Natur?

Ich bin ohne meinen Willen Christ geworden, andere haben für mich gesprochen, wie auch andere mich am Leben erhalten haben. Wie war ich dann mit meinem Willen Christ? War ich überhaupt willentlich Christ, oder bin ich Parteimitglied geblieben, weil der Austritt zu spektakulär gewesen wäre?

Das Gelöbnis »Fest soll mein Taufbund immer stehn« hält mich nicht in der Kirche. Ob Gnade mich festhält, kann ich nicht sagen, weil das Wesen der Gnade bedingt, daß wir wenig über sie sagen können. Ich kann nicht heraus, weil Kirche mir der Verbund zu sein scheint, in dem alle staatenlos am menschlichsten sinnvoll leben könnten, wo mir das Dreieck von Gebot, Verbot und Freiheit durchführbar scheint, wo im grenzenlosen Thema durch die Lehrautorität Grenzen abgesteckt werden, wo man einmal einsehen und revidieren wird, daß der Weg des Engagements mit den Mächtigen und Reichen ein achristlicher Irrweg war. Ich gehe nicht heraus, weil ich diesem Verband so vielfältig verbunden bin, daß die Lösung, die Ablösung keine Erlösung wäre.

Aber darf ich mich noch Christ nennen, habe ich die Nachfolge Christi angetreten?

Sie erlauben, daß ich mir und Ihnen öffentlich diese Fragen stelle. Die Antworten müssen wir uns selbst geben. Habe ich die Menschenfurcht verloren, weil mich die Gottesliebe ergriffen hat? Kennt mein Herz noch jene augustinische Unruhe; habe ich noch, wie Guardini es nennt, das Gewissen für Werte?

Oder ruht mein Herz schon in dir - sprich, der Ruhe der gesicherten Existenz? Bin ich noch getrieben, Unrecht und Unheil aufzuspüren und es zu bekämpfen, es zu beenden? Oder habe ich mich mit den Mächtigen arrangiert? Habe ich mich schon auf die Seite der Selbstgerechten geschlagen: »Einmal muß man ja doch vergessen«? Wir denken heute viel zuwenig an die Verstrickungen durch die Erbsünde. Ich weiß, wie altmodisch, selbst in der Theologie, dieser Begriff geworden ist. Aber es muß etwas geschehen sein, das unsere ursprünglich natürliche Natur zur Unnatur verwandelt hat, so daß die ursprünglich natürliche Natur des Menschen zur Raubtiernatur wurde. Die Kultur versucht die Natur in den Griff zu bekommen, auf daß über die Kultur Natur wieder Natur werde. Ich bin immer mehr überzeugt, daß die aus dem Schöpfungsrahmen gefallene Natur sich eigengesetzlich entwickelt hat - ohne Ethik. Dann kam der Mensch und versuchte, sich die Welt Untertan zu machen und ihr neue Gesetze zu geben. Aber der Mensch schaffte die Natur nicht, weil er in seinem Innern auch nur gefallen, gefallene Natur war. Wenn er ganz in sich hinunterstieg, entdeckte er nicht nur das innere Flämmlein, das Lichtlein, er sah das Auge des Bösen, den Glanz der Brutalität. Er entdeckte in sich das gefallene Tier, die Bestie, den Pessimismus, sein Ego, das kein Du zuläßt. Aber Christus lehrt uns, wie Bruder und Schwester miteinander zu leben. Ich sehe das als Forderung, auf dieser Welt zusammen zu leben, ein; aber ich will von so vielen kein Bruder sein. Christus fordert diese Bruderschaft, auf daß ich meinen Egoismus überwinde.

Es bedürfte nicht Christi, nur um die Menschen zu lehren, gut zu sein. Diese Welt muß verwandelt werden, Menschen in neuen Gewändern, in der neuen Stadt, im neuen Jerusalem sind aufgerufen. Christus war der Mensch, wie der Mensch eigentlich gedacht und geplant war. Er fiel aber unter die Menschen, wie sie nicht gedacht waren, und so scheiterte, menschlich gesehen, auch Christus, der Gottessohn. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Wo ist der Gottesstaat, den wir ersehnen?

Jede Weltreligion, ja, jede Ideologie ist überzeugt, daß nur über eine, über ihre Weltregierung die großen Schäden repariert werden könnten. Aber die Errichtung dieser Weltregierung bedeutet wiederum Terror, Unterdrückung und falsche Missionierung. War die europäische mittelalterliche Gesamtregierung gerecht und christlich?

Trotz Hexenverfolgung, trotz Judenverfolgung bin ich überzeugt, daß das Christentum die menschlichste Form des Umgangs mit Menschen ermöglicht. Es kann Gnade und Sünde einordnen. Christentum ist eine existentielle Bindung. Ich erschrecke beim unerwarteten Anklopfen: Wer sucht mich auf, sucht mich heim? Steht Christus vor der Tür? Und vielleicht in einer nicht mitleiderregenden, sondern abstoßenden Gestalt? - Wen habe ich schon alles abgewiesen, weil er nicht die Aura des Hilfsbedürftigen, sondern die Lästigkeit des Querulanten hatte, der aber um so mehr meiner Hilfe bedurfte.

Paul Celan hat gesagt: Wer auf dem Kopf geht, für den ist der Himmel ein Abgrund. Was ist der Himmel? Die Utopie der Seelen an einem Ort? Mich verlangt und treibt es nach einer Lösung, wo die Gegensätze zusammenfallen, wo die Anschauung die Wahrheit verkündet, wo in Visio Dei Unbe-greifliches begreiflich, griffig, anschaubar, erlebbar, liebbar wird.

Christ zu bleiben heißt manchmal auch, in der Entschlußlosigkeit, Feigheit bleiben. Wer kann schon seine Vergangenheit abschütteln, wer wagt schon eine Ungewisse Zukunft? Denn Christentum in unserer Gesellschaft heute heißt auch Unterstützung von den staatlichen Stellen und Wohlwollen

durch die öffentliche Meinung. Wir haben wenig Kulturkampf. Das Glaubensbekenntnis ist kein Bekenntnis mehr. Aber Christi Forderungen waren nicht gesellschaftskonform. Wie leicht ist es vielen Kindern geworden, Vater und Mutter zu verlassen - aber nicht um »Seinetwillen«. Vater und Mutter um Seinetwillen verlassen! Wie verzweifelt sind wir, wenn uns eines der Kinder verläßt, um in ein Kibbuz, in ein Spiritual-Zentrum zu gehen.

In einem Interview wurde ich vor kurzem als prominenter Katholik dargestellt. Der Interviewer begriff nicht die Contradictio in adjecto. Wir Christen sind gesellschaftsfähig geworden, und wir tun der Gesellschaft nicht mehr weh. Auch die Gesellschaft tut uns meistens nicht mehr weh. Uns ist die Spiritualität des Christentums abhanden gekommen. Wir wissen nicht mehr viel von der Seele. Wir beweisen erfahrungsfroh, daß sich jeder Fingerabdruck von anderen wesentlich unterscheidet, daß kein Haar dem anderen gleicht, daß die Genforschung die Unterschiedlichkeit aller Menschen belegt. Aber von der Unverwechselbarkeit eines jeden Individuums, von seiner einmaligen Seele spricht man wenig. Gerade heute, wo so viel Soziologie und Psychologie betrieben wird, übersieht man den großen Trost, den die »Vergebung« einer Schuld beinhaltet. Wir alle kennen den vor-schnellen Vorwurf: »Ihr Katholiken sündigt drauflos in der Gewißheit, daß Gottes Gnade euch reinwäscht.« Wer die Kapitel des Bußsakraments liest, weiß, daß dem nicht so ist. Ich darf nicht lügen und übervorteilen, aber wenn ich es getan habe - und wir alle tun es mit unserer verkorksten Natur -, weiß ich, daß da noch eine Chance ist. Beichte entschuldigt nicht, sie entschuldet, mir kann vergeben werden. Erinnern wir uns an unsere Kindheit und die bittenden Sprüche an die Mutter, mit denen wir hofften, alles wiedergutzumachen: »Ich will es nicht wiedertun.« Wir tun es inmer wieder, weil das Untier in uns, die ungezähmte Natur, immer wieder aufbricht und nur Kultur dieses Vieh in uns domestizieren kann. Beichte gibt die Chance des Neuanfangs, auch den zur Sünde.

Ich bin auch darum Christ, weil ich an die Liebe Gottes glaube und nicht nur an seine Gerechtigkeit. Natürlich ist das theologisch nicht haltbar. Natürlich kann ich Gerechtigkeit nicht in die Strafecke stellen und die Liebe als verklärenden, verklärten Goldhimmel darüberstülpen. Aber Leben und Tod Christi beweisen mir eine solche maßlose Liebe Gottes -darf man maßlos als Adjektiv für Gott gebrauchen? - zu den Menschen, daß ich den gerechten Gott lieber anderen Religionen zuschreibe. Unser Gott ist der der Liebe, die er allen entgegenbringt, auch den Nichtgetauften, und diese Liebe ist eine Utopie, ist ortlos, aber vehement existent, übergreifend, aber zart, ergreifend, aber mildtätig, die Sinne verwirrend und die Phantasie ordnend. Liebe ist das Meer, in das uns die Gnade stürzt. Ein Meer, in dem viele ertrinken, andere mit Tauchermasken überleben, viele schwimmen lernen und hof-fentlich in diesem Fruchtwasser zu den Ufern gelangen, wo uns die Visio Dei erwartet, wo die sieben Frauen sich nicht mehr zanken um denselben Mann, sondern freudig einsehen, warum sie denselben Mann geliebt haben, nein lieben.

»Liebe verzeiht alles.« Das ist oft ein schneller, flacher Satz. Er ist ein großes Mysterium. Ich wurde in das Meer der Existenz geworfen. Der Glaube hat mich auf ein unsicheres Floß gesetzt, inmitten eines brüllenden, chaotischen, manchmal gefährlich ruhigen Weltmeeres. Kein sicherer Ozeandampfer ist in Sicht, aber es gibt ein neues Ufer, das zu erreichen möglich ist. Ich bin auch Christ, weil ich an Ostern glaube, an die Auferstehung und an das Weiterleben. Seele ist unzerstörbar, Ostern heißt Überwindung der Natur und ihrer natürlichen Kräften. Ostern übersteigt Christus als das Idealbild des Menschen Grenzen, er geht durch Mauern, überwindet Hunger, Durst, Schwerkraft. Ostern ist die Zukunft des Menschen. Hier wird er wieder der Mensch, wie er geplant war.

Vor einigen Wochen hörte ich in New York eine Predigt des Kardinals O'Connor, der klar sagte: Rassismus ist eine Sünde. Wir sondern uns dabei ab. Und wie tief der Rassismus in uns steckt, beschreibt Arthur Miller in seinem aufschlußreichen Buch »Zeitenwende«. Er, der jüdische Student, arbeitete friedlich zwei Jahre in einer Ersatzteillagerwerkstatt mit einem friedfertigen netten Christen zusammen. Einmal fällt Arthur Miller ein Werkzeugkasten herunter und dem Kollegen auf den Fuß, und der schreit unkontrolliert, aber erhellend: »Du Scheißjude, paß doch auf!« Da brach dieses Untier unserer Urnatur wieder auf.

Ich hatte wenig Schwierigkeiten mit der Forderung der Kirche - jetzt auch schon milder vorgetragen -, die alleinige Wahrheit zu verkünden. Ich war überzeugt, es könne nur eine Wahrheit geben, und die anderen hätten nur die Richtigkeiten. Wenn Christus Gottes Sohn ist, ist er die Wahrheit, und keine andere Wahrheit hat Platz neben ihm, weil sie schon erfüllt ist.

Liberale Theologie räumt hier Freiplätze ein, die ich menschenfreundlich akzeptiere, aber gedanklich nicht nachvollziehen kann. Die Kirche gibt, einem Zeitgeist folgend, die Missionierung auf; ist sie selbst nicht mehr von ihrer einzigartigen Wahrheit überzeugt? Gibt es nur einen Weg zum Heil oder mehrere? Die Kirche scheint ihre Unabdingbarkeit aufzugeben, um offener zu werden, sie gerät dabei in die Gefahr, eine Armenküche zu werden, die sozial speist. Das ist gut und notwendig, das können aber auch andere besorgen. Fouriere gibt es genug und zuwenig.

Warum bin ich Christ? Mein Beruf zwingt mich darüber nachzudenken, was Christentum mit Ästhetik zu tun hat. Der gängigen Schönheitslehre der offiziellen Kirchen kann ich nicht folgen, vor allem, wenn sie sich modern gebärden. Die Akzidentia des Seins: das verum, bonum und pulchrum, stellen mich vor große Fragen. Es sei denn, das verum ist viel wahrer, als unsere konventionelle Wahrheitsliebe ahnt, das bonum ist viel durchgreifender und absoluter, als unsere Miserior-Haltung zuläßt, und das pulchrum zeigt uns das ganze Spektrum: die Blume des Bösen, das zerrissene Gesicht des nach Schönheit Dürstenden und die harmonische Vollkommenheit der Einheit von Vorstellung und Darstellung.

Ich frage mich oft angesichts der Verfolgung der Juden durch die Jahrhunderte: Ist Christsein weniger provokant als Judesein? Zeigt »schwarz sein« mehr Rasse als christliche Gotteskindschaft? Was ist unsere Aura, unser Schweiß, unser Signum, unser Stigma?

Warum halten Christen so viel weniger zusammen als Homosexuelle, Freimaurer oder Bibelforscher? Christen sind keine Fanatiker, sie sind fähig zur Freude, weil es Ostern gab und geben wird. Aber wenn ich in der Bronx oder in Hongkong oder vor einem Hochhaus stehe und mir die Vielzahl der Schicksale vorstelle, die hinter den vielen Fenstern stattfinden: diese Unglücke, manchmal Tragödien, diese Lieblosigkeit, diese Verbrechen, diese Zufriedenheit, dieses Glück, diese Harmonie, diese Schändung, diese Zerstörung, diese Gebete, diese Flüche. Was unterscheidet in diesem Hochhaus den Christen vom Mohammedaner, vom Buddhisten, vom Agnostiker?

Wenn man in die Slums und in die Konzentrationslager schaut, muß man meinen, Gott habe die Welt verlassen. Wir sind auf uns gestellt. Eigentlich fing das ja schon in der Urmenschheitsgeschichte an. Der erste Bruder erschlug seinen ersten Bruder. So früh fing das mit dem aus dem Paradies entlassenen Menschen an. Heute geht es nicht viel grausamer zu. Wahrscheinlich ist das Töten sogar zivilisierter geworden; welch ein Fortschritt!

Ich darf aber auch den aus Ostern resultierenden Gedanken nicht unterschlagen, daß ich auch gerne katholischer Christ bin, weil die alle Sinne ansprechende Freude hier ihren Platz hat. Essen und Trinken und das Fasten haben ihren Stellenwert. Das Fest, die Prozession, das Alleluja brauchen keine Entschuldigung. Die Kirche ist kein Ort der Zwangsverpflichtung, Weihrauch, Kerzen und Fahnen, Paramente und Choral sind kein äußerliches Brimborium, sondern geschichtliches und ge-heimnisvolles Ritual, sind die Form unseres Inhaltes. Sie ist inspiriert und inspirierend und vermittelt dem Menschen Wohlgefallen. Man traut sich ja kaum noch, solch ein altmodisches Wort zu gebrauchen, aber Liturgie sollte sich nicht den Moden unterwerfen.

Christ sein heißt auch unter dem Aspekt des Todes leben. Das ist unser bestimmtes Ende und hoffentlich bestimmt ein Anfang. Diese Bürde des Todes, die letzte Hürde zur Ewigkeit, relativiert alle Erfolge und Mißerfolge. Sicherlich muß man im Alltagsgeschäft vieles wichtig nehmen, aber sub specie aeternitatis kriegen die Dinge ihren richtigen Stellenwert; man kann plötzlich lachen. Diese Fröhlichkeit verbittert alle kritisierenden Gegner, deren Leben sich hie et nunc erfüllt. Natürlich ist mein fröhlicher Glaube eine Krücke, aber Hierseinsgeschädigte brauchen Hör-, Seh- und Gehhilfen - über den Fluß geht keiner gerne alleine.

Ich habe im Brockhaus nachgeschaut, was dort über das Stichwort Christ vermerkt ist: »Christ, der Anhänger des von Jesus Christus verkündigten Glaubens in einer seiner kirchlichen oder freien Formen.«

Meine Mutter, eine Christin ohne Frage, hätte die meisten meiner Überlegungen nicht verstanden oder nicht gebilligt. Sie hätte auf die Frage, die Sie mir gestellt haben, geantwortet: »Christ sein ist Helfen, wo immer Helfen notwendig ist und notwendig scheint. Dem Christen wird von Gott, be-sonders aber von Christus und seiner Mutter geholfen, hier oder später. Christ ist man.« Ich vermag nicht mehr so einfach zu antworten. Meine komplizierten Antworten können aber eine Angst nicht verdecken: Was tue ich, wenn dort gleich die Tür aufgeht und der Unbekannte hereinkommt (wie erkenne ich ihn, wie schaut er aus, welches Kostüm, welche Maske hat er an, wie spricht er?) und der Unbekannte mich fragt:

Hast du die Kranken besucht,
Hast du die Nackten bekleidet,
Hast du die Hungernden gespeist,
Hast du die Dürstenden getränkt,
Hast du die Trauernden getröstet,
Hast du die Gefangenen befreit,
Hast du die Toten begraben?

Warum bin ich Christ? Um Feinde nicht mehr zu hassen, um den Nächsten als Nächsten zu ertragen, mich selbst und Gott zu lieben und ihm und seiner Schöpfung zu lobsingen.

Gestern nacht las ich das Tagebuch einer Frau, die keine theologischen Spekulationen über Christsein anstellt, die nicht fragt, warum sie Christ ist, sondern elternlose Kinder adoptiert, sich in der Dritten Welt engagiert, Familie erleidet und lebt. Ist soziales Tun schon christliches Sein? Nein - aber lautloses Tun ist doch wohl christlicher als lauthalses Verkünden. Ich habe das auch nur getan, weil Sie mich gefragt haben, warum ich Christ bin. Ich hatte das Glück, nein, die Gnade, schon als Christ geboren zu sein. Ich versuche durchzuhalten. Ich habe nicht alle Versprechen gehalten. Ich bin Christ, weil Christentum für mich Form und Inhalt ist, in denen ich leben, sterben und hoffentlich überleben kann.

1 Kommentar:

  1. Ganz hervorragend, vielen Dank.

    Bei der Passage "Denn Christentum in unserer Gesellschaft heute heißt auch Unterstützung von den staatlichen Stellen und Wohlwollen
    durch die öffentliche Meinung. Wir haben wenig Kulturkampf. Das Glaubensbekenntnis ist kein Bekenntnis mehr." merkt man aber, wie sehr sich Europa seit 1988 verändert hat. Vielleicht ist es ja aber tatsächlich besser so für uns.

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