„Wie spät ist es?“ – das kleine grinsende
Jungengesicht schiebt sich in der Pausenhalle des Friedrich-Spee-Gymnasiums
unbarmherzig in mein Blickfeld. In meditativer Seelenruhe an meinem erdnußbutterbeschmierten Pausenbrötchen mümmelnd versuche ich ihn so gut es geht zu
ignorieren. Doch da ist es wieder: dieses
schrill-triumphalische Rufen nach der Zeit,
genauer gesagt, nach der Uhr, nach meiner
Uhr. Der Junge, irgend ein Zwerg aus der
Unterstufe, gibt nicht auf, nennt mich in
seinem frotzelnden Kinderkauderwelsch
„Big Ben“ und will partout meine Uhr
sehen, eine Molnija, 19 Steine, Baujahr
1977, mit cremefarbenem Papierblatt und
gebläuten Stahlzeigern. Eigentlich nichts
Besonderes für einen gestandenen Uhrensammler, wohl aber für einen fast-postpubertären Oberstufengymnasiasten, der sich
konsequent allen modischen Trends verweigert und seit seinem 16. Lebensjahr die
Zeit an der Kette trägt. Warum ausgerechnet die Unterstufe unserer glorreichen niederrheinischen Lehranstalt von meinen
absonderlichen Liebeleien zwecks andauernder infantil-spottbeladener Ausschlachtung Wind bekommen hatte, weiß der
liebe Himmel oder meine lieben Mitschüler, wenn sie mal gerade nicht mit dem
Abschreiben meiner Hausaufgaben beschäftigt waren. Ja, ich war ein wenig
stolz auf dieses kleine russische Stahlherz,
welches fröhlich in meiner Hosentasche
tickte und mich an meinen Onkel, den
mechanischen Tausendsassa aus der Vojvodina erinnerte, von dem sie stammte.
Durch die Initialzündung, die von diesem
Instrument ausging, wurde in mir das
Feuer einer großen Leidenschaft entfacht,
das merkwürdigerweise erst während des
asketischen Alumnendaseins im Umfeld
des Münsteraner Theologenkonviktes
„Borromaeum“ voll zur Entfaltung kam.
Abgeschirmt und ekklesial wohlbehütet
von den üblen Verlockungen der Außenwelt mußten erst Jahre vergehen, bis ich
auf einem seltenen abendlichen Streifzug
durch die Münsteraner Innenstadt (wohlgemerkt nach Ladenschluß) in einer Ladenpassage gleich hinter der Goldschmiede
„Teufel“ einen Antikuhrenladen entdeckte,
dessen Auslage spärlich, wohl aber erlesen
zu sein schien. Bei meiner beiläufigen
Betrachtung der Exponate stach mir besonders eine Taschenuhr ins Auge, deren Marke ich von den Annoncen einschlägiger
Arztpraxenzeitschriften her kannte: IWC,
International Watch Company. In Bruchteilen von Sekunden blitzten mir die Preisangaben der Werbeannoncen durch die
rechnerisch tätige Hirnhälfte: mindestens
8.000 DM musste man heute für eine echte
IWC hinlegen (so dachte ich damals), in
Stahl, versteht sich. Und hier räkelte sich
eine noch echtere IWC-GOLDtaschenuhr
im Fenster für einen Bruchteil dieses Preises. Nun begann etwas von mir Besitz zu
ergreifen, was ich als Vorläufer des Geizist-geil-Phänomens skizzieren möchte: alle
Restbestände konsumhemmender Rationalität zogen sich in die Schmollecke der
Nichtbeachtung zurück, während der Besitzgedanke sich gnadenlos durch meine
restlichen Gehirnwindungen fraß. Was
blieb mir als armem Opfer dieser Konsumfalle also anderes übrig, als die Kapitulation durch Kauf?
Nachdem ich wenige Tage später dieses
tickende (und übrigens leicht verbeulte)
Wunderwerk Schaffhausener Fabrikationskunst erworben hatte, rührte mich erwartungs- und irgendwie auch ordnungsgemäß
die Reue: Hatte ich am Ende einfach Edelschrott erworben? Würde man mich auslachen, mich mit Vorwürfen eindecken,
wenn dieses aus der Jahrhundertwende
stammende Zeitmeßinstrument ans Tageslicht der kritischen Öffentlichkeit kam?
Mein nächster Weg führte mich in die
(mittlerweile geschlossene) Regensbergsche Buchhandlung, wo ich alles zu greifen und zu begreifen versuchte, was sich
über Taschenuhren aus jener Zeit finden
ließ (ohne zu kaufen, versteht sich, denn
das hatte ich erst einmal hinter mir).
Dieses Informationsinteresse ist bis heute
nicht von mir gewichen, nur hat sich mein
Schwerpunkt sehr schnell von schweizer
hin zu amerikanischen und englischen
Taschenuhren verlagert, doch das ist eine
andere Geschichte…