Samstag, 22. November 2025

Thérèse war verschwunden - Die Erneuerung des Glaubens in der Mystik

Die Praxis der Kontemplation eröffnet einen tieferen Zugang zur Jesus-Geschichte. 

Von Ludger Schwienhorst-Schönberger

Wer mit den geistigen Traditionen des christlichen Glaubens vertraut ist oder auch einige spirituelle Texte anderer Religionen oder Weisheitslehren wie etwa denen des Zen-Buddhismus oder des Advaita Vedanta kennt, begegnet hin und wieder sogenannten Erfahrungsberichten. In ihnen wird erzählt, wie jemand plötzlich in eine andere Dimension der Wirklichkeit versetzt wird. Oft, nicht immer, handelt es sich um Personen, die seit langer Zeit eine geistige Übung praktizieren. Derartige Erfahrungen können während der Kontemplation auftreten, ebenso aber auch außerhalb der Übung, mitten im Alltag.

Über alle kulturellen und individuellen Unterschiede hinweg weisen diese Erfahrungen eine ähnliche Struktur auf: Eine bisher vertraute Form des In-der-Welt-Seins zerbricht, eine neue, so noch nie geschaute Dimension der Wirklichkeit bricht in das Bewusstsein eines Menschen ein. Die Berichte sprechen von einem Erwachen, einer Erleuchtung, einem Sterben und Neugeborenwerden, einer Befreiung. Oft geht ihnen eine Inkubationszeit voraus, in denen sich etwas Neues ankündigt, das ans Licht drängt, doch die allerletzte Phase ist gewöhnlich ein Sprung, ein plötzliches Erwachen.

Die heilige Thérèse von Lisieux berichtet: "An jenem Tag war es nicht mehr ein Blick, sondern eine Verschmelzung (une fusion), da waren nicht mehr zwei, Thérèse war verschwunden (Thérèse avait disparu) wie der Tropfen Wasser sich in der Tiefe des Meeres verliert. Jesus allein blieb, Er war der Herr, der König." Am Tag darauf, so schreibt sie, "flossen wieder meine Tränen mit unbeschreiblicher Sanftheit und ich wiederholte ohne Unterbrechung die Worte des heiligen Paulus: ‚Nicht mehr ich lebe, Jesus lebt in mir‘ [Gal 2,20] (Œuvres complètes, 35vo–36vo).

Derartige Erfahrungen spielen im Alltag christlicher Gemeinden kaum eine Rolle. Auch die akademische Theologie weiß nicht viel mit ihnen anzufangen. Einem aufgeklärten Christentum gelten sie als suspekt und bisweilen sogar als gefährlich.

Liest man, sensibilisiert von derartigen Berichten, mit nüchternem Blick das Neue Testament, so gewinnt man den Eindruck, dass ohne einen solchen Sprung in eine andere Dimension der Wirklichkeit die Jesus-Geschichte nicht wirklich verstanden werden kann. Der Evangelist Johannes macht das gleich zu Beginn seines Evangeliums unmissverständlich klar. Und zugleich gibt er eine Antwort auf die Frage, warum viele Jesus und seine Lehre nicht verstehen und keinen Zugang zum Reich Gottes finden können. Was ihnen fehlt ist eine zweite Geburt, eine "Geburt von oben" (Joh 3,3), eine Geburt "aus dem Geist" (Joh 3,5), eine "Geburt aus Gott" (Joh 1,13).

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QUELLE: COMMUNIO ONLINE (https://www.herder.de/communio/spiritualitaet/die-erneuerung-des-glaubens-in-der-mystik-therese-war-verschwunden/)

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